Rückblick auf die Fluchtbewegung 2015
Im Interview mit Elmar Schütze von der Berliner Zeitung habe ich auf die Zeit der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 zurückgeblickt.
Mario Czaja: „Die Grenzen des Schaffbaren sind an vielen Stellen überschritten worden“
Als Berliner Gesundheitssenator musste sich Mario Czaja 2015 um Tausende Flüchtlinge kümmern – mit bescheidenen Mitteln. Der Staat war handlungsunfähig, sagt er. Dennoch will er Angela Merkel nicht verteufeln. Wohl kaum ein Politiker in Deutschland hat die Folgen der Grenzöffnung im Sommer 2015 so unmittelbar erlebt wie Mario Czaja. Der CDU-Politiker war damals Berlins Gesundheitssenator und somit als Erster verantwortlich für Registrierung, Versorgung und Unterbringung der Tausenden Flüchtlinge, die binnen weniger Tage in der Hauptstadt ankamen. Heute wirkt Czaja gelöst. Der Verlust seines Bundestagsmandats in Marzahn-Hellersdorf im Februar verschaffte ihm zum ersten Mal seit langem Zeit für einen Rückblick auf das Jahr 2015. Zum Zeitpunkt des Interviews machte er gerade mit seiner Familie Urlaub in Italien.
Herr Czaja, wie haben Sie vor zehn Jahren Angela Merkels „Wir schaffen das“ wahrgenommen?
“Wir hatten damals in Berlin aufgrund der Wucht der plötzlich vor uns stehenden Herausforderungen gar keine Zeit, um uns groß mit solch plakativen Aussagen zu beschäftigen. Wir mussten uns mit den wenigen Ressourcen, die wir hatten, um die Unterbringung und Versorgung der vielen Menschen kümmern, die zu diesem Zeitpunkt schon täglich in Berlin ankamen. Tag für Tag ging es da um praktische Lösungen und nicht um Debatten auf einer Metaebene. Sie selbst wurden damals für die chaotischen Zustände rund um das Lageso, das Landesamt für Gesundheit und Soziales, verantwortlich gemacht. Tausende Menschen standen teils tagelang an, die Bedingungen waren katastrophal. Ich möchte eines vorwegschicken: Keine einzige Kommune in Deutschland war auf einen derartigen Ansturm von Geflüchteten vorbereitet. In Berlin hatten wir das Lageso, das Landesamt für Gesundheit und Soziales. Dort arbeiteten damals knapp zwei Hände voll Mitarbeiter die Fälle von Obdachlosen und Spätaussiedlern ab. Dann kamen innerhalb kürzester Zeit Tausende, das war eine gewaltige Herausforderung, die das Lageso nicht bewältigen konnte. Wir brauchten also ein neues, schlagkräftiges Team, das sich ausschließlich um die Geflüchteten kümmern konnte. Als Senat haben wir in dieser Zeit dann das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, das LAF, gegründet – was übrigens heftig von der Opposition aus Linken und Grünen kritisiert wurde, weil sie fürchteten, die „normalen“ Anträge und Aufgaben würden dadurch liegenbleiben. Dabei war die Gründung des LAF eine der Voraussetzungen dafür, dass sich die Zustände besserten. Das gilt übrigens auch für die Errichtung der Großunterkünfte später. Das eröffnete erst die Möglichkeit, Registrierung, medizinische Erstversorgung, Unterbringung, Kita und Schule in einer Zuständigkeit zu bündeln.”
Welches waren die grundlegenden Fehler damals?
“Das ist eine Frage, die sich im Rückblick leicht stellen lässt. Es gab seinerzeit keine Blaupause für den Umgang mit einem solchen Flüchtlingsstrom. Das war absolutes Neuland für uns. Wir hatten damals im Land Berlin einfach nicht die notwendigen Kapazitäten, so viele Menschen auf einmal unterzubringen. Es gab kein großräumiges Ankunftszentrum wie in Eisenhüttenstadt oder seit Ausbruch des Ukrainekriegs in Tegel. Und Hilfe vom Bund gab es auch nicht. Wir wollten beispielsweise Teile der Julius-Leber-Kaserne für die Unterbringung nutzen, das wäre besser gewesen als die vielen kleinen Turnhallen. Aber das wurde abgelehnt. Wir haben aus den damaligen Engpässen gelernt: Heute ist Berlin deutlich besser aufgestellt mit den flexiblen Möglichkeiten in Tegel und Tempelhof.”
Zur Person
Mario Czaja war zu Beginn der Flüchtlingskrise 2015 Berliner Gesundheitssenator und damit zuständig für das Landesamt für Gesundheit und Soziales, das Lageso. Tausende drängten sich auf dem dafür nicht geeigneten Gelände in Moabit. Czaja selbst überstand Rücktrittsforderungen, dennoch verließ er später die Berliner Landespolitik und ging in den Bundestag. Im Bund machte er überraschend eine Zweitkarriere als CDU-Generalsekretär. Bei der Neuwahl im Februar dieses Jahres verlor Czaja dramatisch seinen Direktwahlkreis Marzahn-Hellersdorf um wenige Hundert Stimmen. Bis heute ist der 49-Jährige (ehrenamtlicher) Präsident des Berliner Landesverbandes des Deutschen Roten Kreuzes.
Schauen wir noch einmal auf Angela Merkel: Wie bewerten Sie ihr Handeln, ihr „Wir schaffen das“?
“Ich gehöre nicht zu denen, die Angela Merkel dafür verteufeln. Dieser Spruch wurde von der damaligen Kanzlerin aus der Situation eines dramatischen Wochenendes auf einem Höhepunkt der Flüchtlingskrise geprägt. Er war ein Plädoyer für Zusammenhalt und Menschlichkeit. Dadurch, dass Bund, Länder und Kommunen jedoch bei der praktischen Umsetzung der Flüchtlingskrise nicht an einem Strang gezogen haben, verbinden viele Menschen in unserem Land diesen Spruch heute mit Staatsversagen und verfehlter Prioritätensetzung.”
Es gab anfangs viel Zustimmung. Aber es gab auch damals schon jede Menge Kritik …
“… die ich in vielen Fällen auch für gerechtfertigt halte. Dennoch kann ich bis heute nachvollziehen, dass sich die aus Ostdeutschland stammende Kanzlerin damals dazu entschlossen hatte, die 10.000 bis 15.000 syrischen Flüchtlinge, die in Budapest festsaßen, aufzunehmen. Die Parallelen zur Friedlichen Revolution 1989 in der taumelnden DDR waren einfach noch sehr frisch. Auch die Erinnerungen an den Fall des „Eisernen Vorhangs“ zwischen Ungarn und Österreich. Die Ostdeutschen blickten mit viel Sympathie auf Budapest. Nur leider führte Merkels Entscheidung vor zehn Jahren dazu, dass sich viele andere europäische Länder wegduckten und am Ende Deutschland alleine etwa 50 Prozent der weiter folgenden Flüchtlinge aufnehmen musste. Das lag auch daran, dass unser Sozialstaat der größte Wohlfahrtsstaat in der EU war und auch immer noch ist und alleine deswegen große Anziehungskraft hat.”
Inzwischen hat sich die Haltung zur Aufnahme von Flüchtlingen und auch der Blick auf diese Menschen scheinbar radikal geändert. Die Menschen werden vielfach nur noch als Problem wahrgenommen, über Integration wird kaum mehr gesprochen. Wie konnte das passieren? Was ist in den Jahren seit dem Sommer 2015 kaputtgegangen?
“Die Grenzen des Schaffbaren sind an vielen Stellen überschritten worden. Die Handlungsfähigkeit des Staates – bis hinunter in die Kommunen – war nicht mehr vorhanden. Hinzu kommt, dass die Probleme, die der ungesteuerte Flüchtlingszuzug mit sich brachte, nicht angesprochen werden konnten. Das Benennen dieser Probleme galt zunächst als nicht gesellschaftsfähig. Dabei sind viele Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten zurückgelassen worden. Und dies alles hat dazu geführt, dass viele nicht mehr integrationswillig sind, sondern sogar negativ gegenüber Flüchtlingen eingestellt sind.”
Lässt sich dieses Klima Ihrer Meinung nach wieder ändern?
“Seit einiger Zeit werden doch die Ränder des politischen Spektrums immer stärker. Dass sich die radikalen Ränder verstärken, sehen wir überall in Europa. Es ist Aufgabe der politischen Mitte, die Probleme nicht nur zu benennen, sondern sie anzugehen. Und dabei sind wir, ist die neue Bundesregierung, auf einem guten Weg. Noch in der Zeit von Olaf Scholz ist das GEAS, das gemeinsame europäische Asylsystem, reformiert worden. Das ist ein großer Schritt. Denn darin geht es erstmalig um europaweit gemeinsame Standards für die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen. Und um einen Solidaritätsmechanismus, der eine gerechtere Verteilung von Asylsuchenden gewährleisten soll. Es tritt am 1. Januar 2026 in Kraft, im Sommer nächsten Jahres müssen es dann alle EU-Staaten umgesetzt haben.
Sie loben den Ex-Kanzler von der SPD. Wie beurteilen Sie die neue Bundesregierung unter ihrem Parteifreund Friedrich Merz?
Die neue Migrationspolitik ist auf einem konsequent richtigen Weg. Es ist richtig, die Grenzen zu sichern, um illegale Migration zu begrenzen. Wir spüren ja schon, dass es wirkt. Die Zahlen gehen zurück, das heißt, dass die Handlungsfähigkeit des Staates zurückkehrt. Das ist der guten Arbeit von Bundeskanzler Friedrich Merz und seinem Team zu verdanken.

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